Die Entscheidung des Europa Parlaments am 27. Oktober über “das Ende der Netzneutralität” hat in den Medien einmal mehr hohe Wellen geschlagen. Für alle die wissen wollen worüber abgestimmt wurde steht das Protokoll des EU Parlaments zur Verfügung.
Ohne eine politische Bewertung abgeben zu wollen, haben leider alle Berichte und Kommentare zu diesem Thema scheinbar eines gemeinsam: ein Bild eines Switches oder Patchfeldes mit LEDs und vielen Kabeln. Leider sind diese Bilder auch oft das Sachlichste zum Thema. Der Spiegelautor Sascha Lobo hat als einziger den Nagel auf den Kopf getroffen und eine nachvollziehbare und vernünftige Forderung aufgestellt: “Hört auf Worte dummzudeuten”.
Genau das wollen wir anstreben. Statt Netzaktivisten, Lobbyisten und Politiker schlicht als Radikale abzustempeln, beleuchten wir die technische Seite. Ein Bild davon wie sinnvoll oder unsinnig das Ergbeniss der EU nun sein wird, kann sich anschließend jeder selbst machen.
Der Anfang allen Übels – Topologie
Über eine Frage wird selten gesprochen: Warum gibt es überhaupt Engpässe in einem Rechnernetz? Stellen Sie sich vor, Sie möchten zwei Städte für Autofahrer verbinden. Die einfachste Lösung wäre eine Straße zwischen beiden Städten. Jedoch sobald Sie eine dritte Stadt anschließen möchten wird es kompliziert. Bauen Sie nur eine weitere Straße, so wird es vorkommen, dass manche Bürger um zur dritten Stadt zu kommen, erst durch die zweite Stadt fahren müssen. Die Lösung besteht darin die Städte zu vermaschen, d.h. jede Stadt erhält eine direkte Straße zu jeder anderen (vollvermaschte Topologie). Im Fall von drei Städten ist das noch kein Problem. Jede Stadt benötigt nur zwei Straßen. Auf Bundesebene wäre das ein kleines Problem. Daher gibt es Überlandstraßen und Autobahnen.
Im Internet gibt es das auch. Es gibt Edge Netzwerke (Ihre Hofeinfahrt), Aggregation Netzwerke (Ortsstraßen und Überlandstraßen), Core Netzwerke (Zubringer und Autobahnen) und Carrier Netzwerke/ Internetknoten (Kreuz Frankfurt und fettere Autobahnen). Jeder der bei Frankfurt einmal im Stau stand kennt das Gefühl: Muss hier denn jeder vorbei?
Mehr Asphalt
scheint auf den ersten Blick die richtige Lösung. In unserer Analogie würde das schnellere Leitungen bedeuten. Ähm nicht wirklich. Bereits hier versagt eine derartige Analogie. Wir sprechen gerne von “schnellerem Internet”. Was wir tatsächlich meinen ist aber meist eine höhere Bandbreite. Klären wir die Begriffe auf.
Bandbreite
Die Bandbreite gibt an, wie viel Information in einer Zeiteinheit übertragen werden können. Üblich ist die Angabe in Bit pro Sekunde. Übliche Größen sind z.B. 16 Millionen Bit (ca. 2 Millionen Zeichen, kurz: 16 Mb/s) pro Sekunde an den üblichen ADSL2+ Anschlüssen in Haushalten. Achtung: Manchmal erfordert es die Technik, dass in Sende und Empfangsrichtung unterschiedliche Bandbreiten vorhanden sind. Daher hat DSL (Ausnahme SDSL) einen höheren Download (Empfang) als Upload (Senden). Während Deutschland gerne das Zepter der 50 Mb/s Bandbreite anpreist, wird unterschlagen, dass selbst Einzelunternehmer mehr als das Doppelte an Bandbreite benötigen würden; natürlich in Sende- und Empfangsrichtung.
Latenz
Die Latenz ist ein Wert für die Laufzeit eines Signals bis zu einem Empfänger. Trotz hoher Bandbreite kann die Latenz jedes Rechnernetz unbrauchbar machen. Z.B. stört man sich bereits an einer 100 Millisekunden (Milli ist ein Tausendstel, kurz: 100 ms) Verzögerung bei einem Telefonat. Für VoIP stellt dies eine weitere Herausforderung dar. Wenn bereits das Telefon zuhause eine Latenz von 40 ms bis zum Server des Anbieters aufweist wird die Zeit knapp. Das Signal muss durch die Anbieter immerhin auch noch zum Telefon meines Gesprächspartners.
Fehlerrate
Die niedrigste Latenz und höchste Bandbreite nutzen wenig, wenn die Gegenseite nur Wirrwarr erhält. Daten werden Binär dargestellt, d.h. als Eins oder Null (gegenüber dem Zehnersystem, das wir in der Grundschule lernen). Ein Datenwort, z.B. die Zahl 13 (Binär: 1101) besteht aus vier Bit. Sollte nun ein Übertragungsfehler auftreten, da die Leitung alt oder defekt ist, wird ein Bit verdreht; aus der 1101 wird 1001, also eine 9. Wenn nun jedes zweite Datum einer Verbindung falsch ankommt und korrigiert oder neu gesendet werden muss, sind niedrige Latenzen und hohe Bandbreiten kein Garant für eine gute Verbindung mehr.
Verfügbarkeit
Wann haben Sie sich das letzte Mal darüber geärgert, dass der blöde Anschluss nicht funktioniert wenn Sie Ihre Mails abrufen wollen? Wir erwarten, dass Netzwerke verfügbar sind. Das Kabel zu einem Computer darf schon mal kaputt gehen, aber wichtige Knotenpunkte müssen unentwegt zur Verfügung stehen. Man spricht hier von Qualitätstufen. Die Stufen Tier 1 bis Tier 4 bezeichnen die Verfügbarkeit eines Systems über ein Jahr verteilt.
- Tier 1: 99,67%
- Tier 2: 99,75%
- Tier 3: 99,98%
- Tier 4: 99,99%
Während die Kernnetze der Provider diese Klassen meist einhalten können, kann Ihr Hausanschluss das nicht. Rechnen Sie mit einer Verfügbarkeit von unter 98%. Für kleine Unternehmen und Einzelunternehmer sieht das Uptime Institute LLC bereits eine Tier 1 oder Tier 2 Installation vor. Also auch im vierten Punkt ist in Deutschland die Qualität, die Unternehmer weltweit zur Konkurrenzfähigkeit voraussetzen nicht zu realisieren.
Verkehrsregeln
Was hat das alles mit Netzneutralität zu tun? Ganz einfach! Wir haben Stellschrauben im Netzwerk. Wir können die Topologie ändern, an Bandbreite, Latenz, Fehlerrate und Verfügbarkeit drehen und dadurch das Netz manipulieren.
- Bandbreite erhöhen durch Änderung der Topologie: z.B. mehr Verteilerstandorte
- Latenz verringern durch höhere Fehlerrate: egal was ankommt, Hauptsache schnell
- Verfügbarkeit erhöhen durch flachere Topologie: weniger Punkte die versagen können, jedoch mehr Stau
- …
Die Stellschrauben
Best Effort
Das derzeit gängige Konzept, besser bekannt unter: “Wer zuerst kommt, malt zuerst”. Es funktioniert in vielen Fällen überraschend gut. Der Verkehr im Netzwerk unterliegt keinen Restriktion, jeder ist völlig gleichberechtigt.
Class of Service/ Type of Service
Hier wird jedem Datenpaket ein Wert zugewiesen worum es sich dabei handelt (Sprache, Daten, Überwachungskamera, etc.). Anhand dessen wird eine Priorisierung getroffen welche Pakete zuerst weiter geleitet werden. Meist verwendet man ein “Weighted Round Robin” Verfahren. Dabei darf jeder Pakettyp der Reihe nach weitergeleitet werden, wichtigere dürfen aber mehrmals.
Traffic Shaping
Kennen Sie das Gefühl, dass alle Arbeit eines Tages in einer Stunde erledigt werden soll? Ein Netzwerk kennt das. Daher gibt es den Token Buket. Jedes Datenpaket wirft eine Münze in einen Eimer und wartet. Erst wenn der Eimer voll ist, werden alle Datenpakete weitergeleitet. Dadurch erzielt man eine gleichmäßige Auslastung des Netzwerks.
Routing und Policy Routing
Auch in einem Netzwerk gilt: viele Wege führen nach Rom. In einem vermaschten Netzwerk ist es von Vorteil für Sprache einen Weg mit geringer Bandbreite aber auch niedriger Latenz zu nehmen, zum Download eines Videos sind 50 ms mehr oder weniger egal. In diesem Fall benötigt man eine hohe Bandbreite. Die automatische Auswahl der Strecke zum Gegenüber anhand der Verbindungsart und der Datenart ermöglicht vermaschte Netze und Lastverteilung in diesen überhaupt erst.
Congestion Management
Irgendwann ist auch im besten Netzwerk Schluss. Daher benötigt man bereits in der Planungsphase genaue Angaben über die zu erwartende Last. Als Richtwert der Belastung eines Netzwerk gilt Folgendes:
- 10% Nominallast
- 30% Spitzenlast
- 50% Alarm Threshold
- 70% automatische Trennung
Diese Werte ermöglichen bereits vor Netzausfall, z.B. durch eine erhöhte Last durch Viren, regulierend einzugreifen. Die Trennung der Geräte vom Netzwerk ab einer gewissen Schwelle dient zum Schutz vor Angriffen auf die Infrastruktur (besonders bekannt der Denial of Service Angriff – DoS). Übrigens geht diese Rechnung nicht mehr auf, falls man die im deutschen Internet vorhandene Nominalbelastung von 30% zu Grunde legt.
Spätestens hier wird klar, wie schwierig Netzneutralität und Fairness einzuschätzen sind. Sollte ein wichtiger Switch wegen zu hohem Aufkommen abschalten kann das youtube Video ohne, dass der Nutzer es merkt über einen anderen Switch geladen werden. Ein Telefongespräch über VoIP bricht jedoch zusammen.
Die Bewertung was fair, neutral und wirtschaftlich ist, ist plötzlich nicht mehr so einfach. Ein Best Effort Netzwerk hat immer weitere Stellschrauben. Dreht man die eine “fairer” wird die andere “unfairer”. Natürlich gibt es noch weitere Stellschrauben und Richtwerte. Auch wenn Sie sich nicht unter allem sofort etwas vorstellen können, betrifft diese Technik inzwischen jeden täglich. Die Diskussion über die Netzneutralität wird sicher nicht so schnell enden, es wäre nur schön sie endlich mit fundierten technischem Fachwissen weiterzuführen.